Ein Mensch zu sein, bedeutet ein spürendes Wesen zu sein. Wir sind Empfindungswesen. Mit der Fähigkeit des Spürens kommen wir bereits zur Welt. Als kleines Kind reagieren wir auf das uns innewohnende Spüren.
Die Welt des Spürens ist eine Welt des Empfindens, des Fühlens, so wie der direkten Erfahrung. Das jeweilige Empfinden tritt unmittelbar ein, ein gegenwärtiges Erleben. Es gibt viele verschiedene Qualitäten und Zustände, die wir über unser Spüren erfahren können. Dabei gibt es kein richtiges oder falsches Spüren. Es ist sogar möglich, dass wir nichts spüren, nicht einmal uns selbst.
Die mentale Entwicklung
Erst später lernen wir eine Welt jenseits des Spürens kennen. Dies ist die Welt des Verstandes. Die Welt des Verstandes ist eine Welt der Worte, eine Welt des Denkens. Die Welt des Verstandes eröffnet uns eine andere Dimension. Sie ist eine abstrakte Welt, eine Welt voller Symbole. Wir können über alles Mögliche nachdenken, über die Zukunft, die Vergangenheit, können schöne oder ängstigende Vorstellungen aufbauen. In der mentalen Welt können wir jede uns erdenkliche Vorstellung erschaffen.
Der gegenwärtige Moment ist gedankenlos kann aber über das Spüren erfahren werden. Befinden wir uns in der Welt der Gedanken, sind wir nicht unmittelbar im Hier und Jetzt.
Unsere ursprüngliche Wahrnehmung ist die spürende Wahrnehmung, die uns im besten Fall ein Leben lang erhalten bleibt.
Sich spüren - einfach nur empfinden was ist
Unsere Empfindungen zeigen uns, was gerade ist. Sie sind facettenreich. Wir spüren uns in allen Bereichen. In jenen, denen wir eine negative Zuschreibung geben genauso, wie in jenen, die wir positiv interpretieren. Unser Empfinden trifft keine Unterscheidung zwischen „gut“ und „schlecht“.
Eine Bedrohung für unser ganzheitliches Spüren: Sich nur noch „positiv“ spüren wollen
Sich nur noch im positiven Sinne zu spüren, mag wünschenswert erscheinen, bedeutet jedoch eine Beschneidung des eigenen Empfindens. Je weniger wir uns erlauben, uns in den „negativen“ Belangen zu spüren, umso mehr verlieren wir den Zugang zu den „positiven“ Belangen. Beschneiden wir unser Empfinden, stumpfen wir ab.
Sich nur noch in positiven Bereichen zu spüren ist kein Ausdruck einer hohen Entwicklung, sondern Ausdruck einer Realitätsflucht. Diese Welt ist eine duale Welt – sie beinhaltet „Positives“ wie „Negatives“.
Eine Gefahr: das eigene Empfinden ausblenden, das eigene Spüren opfern
Die Fähigkeit des Empfindens erleben wir nicht immer nur positiv. Das, was wir spüren, erzeugt oftmals negative Gefühle, zeitweise auch Schmerz. Die Welt um uns herum erscheint uns kalt, gemein, ungerecht, manchmal sogar feindlich oder zerstörerisch.
Die spürende Wahrnehmung ist empfindsam, sie ist feinfühlig. Es gibt vieles, dass diese empfindsame Seite von uns verletzt und uns schmerzt. Erfahrungen von
- Ablehnung,
- von negativer Bewertung unserer Person,
- von nicht wahrgenommen werden,
- ungerecht behandelt oder beschuldigt zu werden,
- keine Chancengleichheit zu erleben,
- ausgelacht und beschämt zu werden,
- zusehen zu müssen wie jemand anderer verletzt wird
und vieles mehr verletzen uns. Nachdem wir meist nicht gelernt haben, mit Schmerz umzugehen, lehnen wir ihn ab. Eine der besten Strategien der Schmerzabwehr ist:
- Somit nehmen wir unsere Empfindungen kaum mehr wahr.
- Bis wir einen Punkt erreichen, indem wir sie nicht mehr spüren. Dann ruft ein Nicht-Wahrgenommen werden, eine Ablehnung kein Gefühl von Schmerz mehr hervor. Das bedeutet aber nicht, dass es uns nicht mehr verletzt.
Die Schmerzabwehr
Die psychische Schmerzabwehr gleicht der Wirkung eines Schmerzmittels. Ein gutes Schmerzmittel führt dazu, dass wir den körperlichen Schmerz nicht mehr spüren. Der Schmerz ist zwar weiterhin vorhanden und löst sich durch das Schmerzmittel nicht auf. Lediglich das Wahrnehmen und Spüren des Schmerzes wird abgeschalten.
Die psychische Schmerzabwehr funktioniert ähnlich. Geben wir das Spüren auf, bleibt der Schmerz weiterhin vorhanden. Ablehnungen, Zurückweisungen, …. all dies verletzt und schmerzt uns weiterhin. Wir haben nur gelernt, den Schmerz nicht mehr zu spüren.
Wir fühlen uns, als würden wir über den Dingen stehen. Über Dinge zu stehen bedeutet nicht, sie gemeistert zu haben, sondern nur, dass wir nicht in der gegenwärtigen Realität verankert und aus ihr geflüchtet sind. Wir sind außerhalb des Geschehens, stehen über den Dingen, sind nicht mehr berührbar. Ein bewusster Mensch ist berührbar, er ist beteiligt, mitten im Geschehen.
Körperlich wird es gefährlich, wenn das Schmerzempfinden fehlt. Ein Schmerzempfinden ist ein Signal. Ohne Schmerzempfinden ist es schwierig ,Verletzungen zu bemerken. Psychisch betrachtet ist es ebenfalls ungünstig, sich nicht mehr zu spüren. Spüren wir uns nicht mehr ausreichend, nehmen wir auch nicht mehr wahr
- wenn wir verletzt sind. Was dazu führt, dass wir uns nicht schützen und die Verletzung schwerer wird, als sie vielleicht sonst ausgefallen wäre.
- wenn wir über unsere eigenen Grenzen oder die Grenzen von anderen gehen.
- wenn wir uns selbst verletzen, indem wir uns abwerten, nicht wahrnehmen, ignorieren, beschimpfen, usw.
Kurzfristig mag die Strategie des „sich nicht Spürens“ eine Erleichterung bringen. Wir spüren die Verletzungen einfach nicht mehr. Doch langfristig zahlen wir einen hohen Preis, wenn wir unsere Empfindungsfähigkeit aufgeben. Wir spüren viele Erfahrungen nicht mehr und stumpfen ab. Dann werden wir innerlich kalt, werden zu jenen Menschen, worunter wir selbst einst so sehr gelitten haben.
Menschen, die andere oder sich selbst verletzen, spüren sich nicht sonderlich
Nur Menschen, die sich nicht spüren, verletzen andere oder sich selbst. Es kann sein, dass sie sich generell nicht sonderlich spüren, oder nur in diesem Moment nicht recht spüren.
Einem spürenden Menschen fällt es schwer, andere zu verletzen. Er wird wahrnehmen, welche Auswirkungen sein Handeln hat. Über die spürende Wahrnehmung bekommen wir eine unmittelbare Reaktion auf unser Verhalten. In diesem Fall spüren wir: „Wir haben den anderen soeben verletzt“. Üblicherweise lässt uns diese Erkenntnis nicht kalt.
Jener allerdings, der sein Spüren aufgibt, erwirbt eine innere Kälte. Innerlich erkaltet, wird es egal, wie es dem anderen geht. In diesen Momenten gleichen wir der Eiskönigin im Märchen. Emotional abgestumpft lässt uns das Leiden des anderen genauso kalt, wie unser eigenes Leiden.
Solange wir uns spüren haben, wir auch Mitgefühl
Solange wir empfindsam bleiben und uns spüren, haben wir Mitgefühl. Mitgefühl ist ein Anzeichen davon, dass wir in Kontakt mit uns selbst sind, dass wir uns selbst im Gespür haben. Der andere ist ein spürendes Wesen, wie wir. Es ist einfach nachvollziehen, wie es dem anderen gerade geht. Mitgefühl ist eine natürliche Reaktion.
Emotional abgestumpft
Emotional abzustumpfen bedeutet, wir nehmen weder unsere eigenen psychischen Signale noch die von Anderen ausreichend wahr.
Sich zu spüren ist ein Anzeichen unserer Menschlichkeit. Wir sind keine funktionierenden, empfindungslosen Roboter. Unser Wesen ist weder funktional noch automatisch. Verlieren wir das Spüren, verlieren wir unsere Menschlichkeit - wir verlieren uns selbst.